Versuche dir mal die folgende Szene vorzustellen: Ich habe gerade meine erste Stelle als vollzeitlicher Jugendpastor angetreten, es ist Freitagabend, Zeit für meine erste, übervorbereitete Bibelarbeit. Alles klappt hervorragend, ich frage mich gerade, warum ich überhaupt so nervös war, die Jugendgruppe lauscht gespannt meinen Worten, die Spannung steigt, ich komme langsam aber sicher zum entscheidenden Moment meiner Geschichte, da… …springt ein 14-jähriges Mädchen aus ihrem Stuhl, rennt einmal komplett durch den Raum, zurück zu ihrem Sitz. Den Rest der Andacht konnte ich so ziemlich vergessen. Das war meine erste Begegnung mit der hyperaktiven Jen. Jen, meine Frau und ich werden schnell Freunde. Irgendwann erfahren wir, dass Jen gegen den Willen ihrer Familie zur Kirche kommt, dass sie zu Hause regelrecht für ihren Glauben an Jesus gemobbt wird. Aber Jen liebt Jesus, braucht ihre Gemeinde und bleibt dabei. Für viele von uns – mich eingeschlossen – wird sie später ein Mentor, eine Person, die ihre Beziehung mit Jesus ernst nimmt. Jen ist Teil unserer Familie, manchmal fast ein bisschen wie eine Adoptivtochter und später wie eine Tante und Mentorin für unsere Kinder. Ein paar Jahre später darf ich Tante Jen, obwohl sie noch sehr jung ist, erst als Praktikantin und dann als Jugendpastorin bei uns anstellen. Dann folgt irgendwann ein Theologiestudium, eine längere Missionsreise nach Afrika, die dann zurück in Kanada damit weitergeht, dass Jen fast alles verkauft und unsere Gemeinde zum Spenden aufruft, weil sie sich verpflichtet hat, einem jungen Afrikaner das gesamte Studium zu finanzieren. Später folgen Zusatzstudien und heute arbeitet unsere junge Freundin als Outdoor-Guide, Lawinenkontrolleurin, Kajak-Wildwasserführerin … und Jen ist Teil dieser riesigen Statistik von 20- bis 30-jährigen, die mit Kirche überhaupt nichts mehr anfangen können. Sie ist gar nicht böse auf Gott, immer noch verzaubert und verliebt in Jesus, nur wenn du das Thema Kirche ansprichst, kommt dir ein Schwall negativer Empfindungen entgegen.
Jetzt, einige Jahre später, hat mich Jen in mein Lieblingscafé eingeladen (wo ironischerweise „Straight Coffee“ ausgeschenkt wird) und ich habe sie mal gebeten, mir in drei Statements ehrlich zusammenzufassen, warum jemand wie sie, die so in einer Gemeinde verwurzelt war, jetzt so ausgesprochen gegen Kirche sein kann. Hier ist ihre Antwort: 1. „Ich kann nicht mehr auf diese Heuchelei!“ „Gerade durch meine soziale Arbeit in Afrika und meine Liebe für die Schöpfung, die ich Tag für Tag in meinem Beruf erleben darf, bin ich nicht so sicher, ob ich weiter Teil einer Gemeinschaft sein kann, wo diese Werte eben nur mal beiläufig erwähnt werden. Ich weiß, dass gerade diese Werte, soziale Gerechtigkeit und Erhaltung der Schöpfung, in den Lehren Jesu einen extrem großen Platz eingenommen haben. Und um das, was Jesus wichtig ist, sollte es ja eigentlich gehen in unseren Kirchen!“ 2. „Jemand wie ich passt irgendwie nicht in diese Kirchenkultur!“ Meine Freunde, meine Welt da draußen, haben herzlich wenig mit meiner Welt da drinnen, in der Gemeinde zu tun! Wir reden über andere Themen, haben andere Werte, hören oder machen andere Musik, der Humor ist total anders, eigentlich haben beide Welten gar nichts miteinander zu tun. Ich kann nicht länger in zwei Kulturen leben. Wenn du nicht 2-3 Kinder, ein Haustier und eine schicke Wohnung hast (oder hattest…), wenn du nicht irgendwo in der soliden Mittelschicht angesiedelt bist, wirst du immer das Gefühl haben, nicht dazu zu gehören. Alle Programme sind nur auf diese eine Gruppe ausgerichtet und als jemand, der Ende 20 und unverheiratet ist, fühlst du dich fast wie ein Sozialfall und auf jeden Fall nicht ernst genommen. Ich kann mich nicht mehr verstellen! 3. „Bitte keine unbequemen Fragen!“ „Mein Freund ist Buddhist und hat mir ein bisschen beigebracht zu meditieren, hat mir einiges gebracht!“ „Meine Freundin ist Ende 30, geschieden, hat sexuelle Bedürfnisse!“ „Unsere Wohngemeinschaft ist auf fair gehandelten Kaffee umgestiegen. Als ich unseren Gemeinderat gefragt habe, ob wir das aus Solidarität mit den Armen auch so machen könnten beim Kaffeetrinken nach dem Gottesdienst bin ich nur belächelt worden: ‚Warum?’“ „Ich kann einfach nicht an einen Gott glauben, der uns zum Vergeben auffordert und dann selber Leute eine Ewigkeit lang in einer Hölle quält, nur weil sie nicht an ihn glauben konnten!“ Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass es in der Gemeinde nicht gerne gesehen wird, wenn ich unbequeme Fragen stelle? Mit meinen Freunden ist es doch ganz normal über Dinge zu reden, die uns beschäftigen… Ehrlich gesagt, gepredigt wird eigentlich auch ziemlich selten über die wichtigen Fragen, die uns wirklich beschäftigen. „Den Frieden bewahren“, Bequemlichkeit, scheint immer wichtiger zu sein als Ehrlichkeit. Irgendwie habe ich das Gefühl, das wäre bei Jesus anders gewesen!
Was denkst du über diese Antworten? Wie geht deine Gemeinde mit sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz um? Sind das Fragen, bei denen Christen sich zu Wort melden müssten? Hatte Jesus diese Themen auf seinem Radar? Stimmt es, dass Gemeindekulturen nur ein sehr begrenztes „Klientel“ ansprechen und alle anderen irgendwie „draußen“ sind? Kannst du verstehen, dass „Außenseiter“ sich mehr wie Sozialfälle oder „Gnadenobjekte“ vorkommen als ernst genommen und dazugehörig? Wie geht deine Gemeinde mit unbequemen aber existentiellen Fragen um? Was würde passieren, wenn du anfangen würdest ehrlich zu sein? Kann man eine „Fragenkultur aufbauen?“ Wie schafft man Platz für anders denkende? Wie schafft man es, sie als Bereicherung zu sehen?